Erich Fried - Die Abstoßende

"Dass in unguten Zeiten die Wahrheit entsprechend hässlich scheinen muss, ist nicht weiter verwunderlich, auch nicht, dass es dadurch der glatten Lüge leicht wird, ungleich schöner zu erscheinen als die hässliche Wahrheit.
Nun würde man bei genauerem Zusehen zwar mit der Zeit merken, dass es nicht die Hässlichkeit der Wahrheit ist, die so entsetzlich wirkt, sondern nur die Hässlichkeit dessen, was sie nicht umhinkann zu zeigen. Ebenso würde man bei längerem Betrachten der Lüge nach und nach ihre rissigen Stellen entdecken und sie dann gar nicht mehr so schön finden. Wie es aber das Unglück nun einmal zu wollen scheint, genügt der erste Eindruck beim Anblick der Wahrheit den meisten Menschen, um ihnen vor dem Hässlichen, dessen sie gewahr werden, solche Angst - mehr noch als Abscheu - einzuflößen, dass sie es zu vermeiden suchen, die Wahrheit auch nur ein einziges Mal ins Auge zu fassen.
Die ungute Zeit aber, die die Wahrheit zwingt, so hässlich zu wirken, dass die entscheidende, teils schweigende, teils lautstarke Mehrheit der Menschen sie lieber gar nicht mehr sehen will, gereicht natürlich den Lügen, die mehr als je zuvor gefördert werden, und damit der weiteren Verschlechterung der Zeit, zu großem Nutzen."

Auszug aus dem Text: "Die Abstoßende"; Erich Fried - "Mein Heldenzeitalter", Rowohlt Taschebuch Verlag, April 2005

gewidmet: Lilly und allen Intrigantinnen, die dazu betragen, dass man an manchen Tagen aus dieser Welt springen möchte.